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Steuerliche Integration in der EU: Die Folgen der "Rechtsakrobatik"

Steuerliche Integration in der EU: Die Folgen der "Rechtsakrobatik"

Alicia Hinarejos, Professorin an der McGill University in Montreal, hielt am 8. Mai einen Vortag über die Möglichkeiten und Grenzen der steuerlichen Integration in der Europäischen Union.

Alicia Hinarejos während ihres Vortrags am MPI für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen in München. Foto: Julia Salzer

In der jüngsten Vergangenheit haben mehrere Krisen das Streben der Europäischen Union (EU) nach steuerlicher Integration beschleunigt, insbesondere die Euro-Krise und die COVID-19-Pandemie. Angesichts der praktischen Unmöglichkeit, die EU-Verträge zu ändern, geschah dies durch "juristische Akrobatik", d.h. mittels Ausdehnung der Grenzen der EU-Verträge, wie Prof. Alicia Hinarejos in ihrem Vortrag "The Fiscal Integration in the EU: Acceleration, Constitutional Pitfalls, and Limits" aufzeigte. Ihren Vortrag hielt Alicia Hinarejos, Professorin an der McGill University in Montreal (Kanada) und Expertin für EU-Recht und vergleichendes Öffentliches Recht, am 8. Mai 2024 im Rahmen des Max Planck Hub Fiscal and Social State.

Die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) ist seit ihrer Gründung durch eine asymmetrische Politik gekennzeichnet – und damit durch eine gewisse Unwucht: zentralisierte Geldpolitik auf der einen Seite und dezentralisierte Steuerpolitik auf der anderen. Vor allem aber sollte die WWU keine Transferunion sein. Folglich lag der Schwerpunkt eher auf Risikobegrenzung als auf Risikoteilung. Während der Euro-Krise wurde jedoch deutlich, dass die WWU Verbesserungen benötigt, um makroökonomische Schocks durch Risikoteilung zu bewältigen oder, besser noch, zu verhindern. Den Herausforderungen, die diese Krise für eine Reihe von Mitgliedstaaten mit sich brachte, wurde jedoch nicht durch eine Vertragsreform begegnet, sondern "durch eine veränderte Auslegung zentraler WWU-Bestimmungen und die Verabschiedung unorthodoxer politischer Maßnahmen, insbesondere durch die Schaffung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM)", erklärte Hinarejos. Der Konflikt zwischen einem regelbasierten und einem ermessensbasierten Ansatz der steuerlichen Integration wurde dabei jedoch nicht gelöst.

Nach einigen Jahren des Stillstands hat die COVID-19-Krise die Diskussion über die Schaffung einer dauerhaften Steuerbefugnis der EU oder der Eurozone wieder in Gang gebracht. Mit "Next Generation EU" (NGEU) hat die Union im Jahr 2020 ein "historisches Konjunkturprogramm" aufgestellt, das mehr als 750 Milliarden Euro umfasst. Zum ersten Mal hat sich die EU damit als Ganzes verschuldet: Die an bestimmte Bedingungen geknüpften Zuschüsse und Darlehen wurden durch die Aufnahme gemeinsamer Schulden – und damit durch Risikoteilung – finanziert. Darüber hinaus einigten sich die Mitgliedstaaten auf einen Fahrplan, der der EU neue Wege zur Beschaffung von Eigenmitteln eröffnen sollte. Die Rechtsgrundlage für diese Maßnahmen waren Art. 122 über die finanzielle Unterstützung von Mitgliedstaaten in Notfällen und Art. 175 (3) zur Kohäsion. Hinarejos betonte, dass auf diese Weise eine Lösung für die Bewältigung der Krise erneut durch Rechtsakrobatik gefunden wurde.

Diese "Akrobatik" gibt Anlass zu mehreren Bedenken, die Prof. Hinarejos am Ende ihres Vortrags darlegte: Erstens könnte das Programm NGEU als Modell für eine neue Behelfslösung in zukünftigen Notfällen dienen, wobei unklar ist, wie es finanziert wird und wer die konkreten politischen Entscheidungen über die Ausgaben trifft. Zweitens werden wichtige Reformen im Verborgenen durchgeführt, wobei die Exekutive dominiert und die Rolle des Europäischen Parlaments begrenzt ist. Und schließlich wird der Konflikt auf diese Weise auf die juristische Ebene verlagert, was die EU-Institutionen diskreditiert. Es gebe nur eine Lösung, wenn die EU damit aufhören wolle, sich durchzumogeln, sagte Hinarejos: Die Mitgliedstaaten müssen die strittigen Fragen endlich klären.

 

Mai 2024